Im Mittelpunkt steht die Strukturierung von Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz (KI) und die Schaffung eines rechtssicheren Rahmens. So lassen sich künftig z.B. Leistung und Sicherheit von Medizinprodukten objektiv und weitgehend automatisiert messen. Administrative Aufgaben der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Dokumentation, können durch entsprechende Anwendungen automatisiert erledigt werden. Welche Vorteile das neue, weltweite Ökosystem für Patienten, Ärzte und Hersteller bringen wird, erklärt Prof. Dr. Andreas Nüssler, der Leiter des Siegfried-Weller-Institutes für Unfallmedizinische Forschung (SWI) im Interview. Das SWI ist das klinikeigene Forschungsinstitut der BG Klinik Tübingen. Es dient dem Wissenstransfer zwischen klinischer Praxis und medizinischer Forschung.

Herr Prof. Nüssler, was hat Ihr Interesse an AIQNET geweckt?

Als Wissenschaftler suche ich stets neue Erkenntnisse und stelle diese auf den Prüfstand. Die BioRegio STERN Management GmbH hat mich vor etwa einem Jahr gefragt, ob ich an einem ersten Projekttreffen in Tuttlingen teilnehmen würde. Dieses Sondierungsgespräch war hoch interessant und hat den Ausschlag für mein Engagement gegeben. AIQNET hat das Potenzial, die Zukunft der Medizin zu gestalten.

Warum gibt es aus Ihrer Sicht Bedarf für ein „Ökosystem für medizinische Daten“?

Es gibt in jedem Krankenhaus zahlreiche Daten, die aus medizinischen Gründen gesammelt werden. Diese Daten liegen in verschiedenen Archivsystemen und häufig in unstrukturierter Form vor. Der Patient kommt beispielsweise von seinem Hausarzt mit einem Arztbrief auf Papier, Untersuchungsbefunde kommen per PDF und später kommen Laborbefunde etc. dazu. Die Idee ist es, alle Daten in eine strukturierte Form zu bringen, in einer Datenbank zu sammeln und dann mittels KI auszuwerten.

AIQNET bietet die Chance, dass KI Fortschritte im Sinne des Patienten ermöglicht. Neben der hohen Kompetenz der Projektbeteiligten sind für uns auch die Fördergelder attraktiv. Alle wollen zwar IT und KI, aber häufig stehen keine Mittel dafür zur Verfügung oder deren Beantragung scheitert an Formalien. So bietet dieses Projekt die Möglichkeit, diese Ressourcen optimal nutzen zu können. Wir sehen uns als Pioniere im modernen Gesundheitswesen.

Warum ist es sinnvoll, klinische Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenzen zu strukturieren und auszuwerten?

Ich möchte Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Ein Punkt, an dem wir in der Klinik seit geraumer Zeit forschen und der auch im Rahmen des Projektes intensiv untersucht wird, ist der Zusammenhang zwischen verschiedenen Nebenerkrankungen der Patienten und deren Einfluss auf das „Outcome“, also das Therapieergebnis. AIQNET bietet uns die Möglichkeit, KI mit unseren bisherigen Forschungsansätzen zu kombinieren. Wir haben bereits eine eigene Datenbank zu dem Thema und dadurch festgestellt, dass ein Teil der Patienten ein erhöhtes Risiko für eine Mangelernährung haben. In Deutschland wird Mangelernährung zwar behandelt, aber nur nachdem sie evident geworden ist. Nicht behandelt wird die Vorstufe, also das erhöhte Risiko für eine Mangelernährung. Wir haben daher den Ernährungszustand von Patienten, die in der Klinik operiert werden sollten, mittels des Nutrition Risk Score (NRS) klassifiziert, also nachgefragt ob ein Risiko für Mangelernährung besteht oder nicht. Patienten mit einem erhöhten Risiko für Mangelernährung hatten ein größeres Risiko eine Komplikation zu entwickeln, als solche die kein Risiko einer Mangelernährung hatten. Daher ist es vorstellbar, diesen Patienten vor der Operation für ein Knie- oder Hüftimplantat beispielsweise zusätzlich eine proteinreiche Nahrung oder eine Substitution zu verabreichen. Der Patient würde also bereits vor der OP behandelt werden, damit er in einer besseren Kondition im Krankenhaus ankommt und nach der Behandlung schneller regeneriert. Ein übergeordneter Zusammenhang wurde erkannt und Patienten mit schlechteren Chancen könnten plötzlich wieder auf eine ‚normale‘ Heilung hoffen.

Natürlich funktioniert das Prinzip auch wenn andere Konstellationen vorhanden sind, etwa Übergewicht und Diabetes in Verbindung mit einer Lebererkrankung. Dann weiß der behandelnde Arzt, dass er hier besondere Vorsicht walten lassen muss. Die neuen Erkenntnisse könnten auch die Nachbehandlung verbessern.

Das hört sich an, als würde vor allem der Anamnese-Bogen vor der OP noch länger. Wie soll KI hier ansetzen?

Zunächst einmal sollen die bestehenden Daten an einem Ort gebündelt werden. Die analogen Arztbriefe, die Befunde, die Laborparameter und dann natürlich auch noch die Informationen über das zukünftige Implantat. Die Fülle an Informationen soll wieder überschaubar werden.

Fragen wie „ist dieses Implantat für eine bestimmte Konstellation von Patienten besser geeignet als ein anderes Implantat?“ können wir beantworten, wenn die Nebenerkrankungen systematisch erfasst werden. Stichwort „Komorbidität“. Wir erwarten, dass KI, wenn sie entsprechend trainiert ist, auf Grundlage der gebündelten Patientendaten selber die Schlussfolgerung zieht, dass bei einem bestimmten Patienten ein bestimmtes Problem vorliegt. Das könnte z. B. das erhöhte Risiko einer Mangelernährung sein. Entsprechend schnell kann daraus ein Handlungsschema entwickelt werden. Natürlich muss das immer überprüft werden. Aber gerade bei anderen und weniger erfahrenen Kollegen oder in kleineren Krankenhäusern, die nicht diese Menge an Patienten haben, ist es ein Vorteil, wenn KI derartige Handlungsempfehlungen liefert. Die KI kann uns in diesem Fall unterstützen, eine verbesserte, individuell angepasste Therapie, ein besseres „Outcome“, zu erreichen.

Warum wurde für die Kooperation mit dem Medizintechnik-Hersteller Aesculap AG der „Use Case“ Knieimplantate gewählt?

Zum einen müssen für das Projekt eine große Menge an Daten generiert werden, um zu sehen, ob unser digitales Ökosystem in diesem Use Case auch wirklich funktioniert. Zum anderen lässt sich der Zusammenhang zwischen Risiken bei Knieimplantaten und Nebenerkrankungen leicht nachvollziehen. Die BG-Klinik Tübingen ist eine große Unfallklinik, hier werden sehr viele Knieimplantate pro Jahr erfolgreich eingesetzt. Durch unser Qualitätsmanagement sind die Abläufe sehr gut erfasst.

Trotz bester Operationstechnik und bester Implantate bringen nicht alle Patienten die gleichen Heilungschancen mit. Wenn jemand Diabetes hat, hat er ein hohes Risiko eine diabetische Osteopathie zu entfalten. Also gibt es ein höheres Risiko eine Komplikation zu entwickeln, wenn diese Person beispielsweise ein Knieimplantat benötigt. Diabetologische Erkrankungen sehen wir in knapp 13 Prozent der Fälle. Insgesamt haben 20 bis 25 Prozent unserer Patienten ein erhöhtes Risiko für eine Mangelernährung. In der Alterstraumatologie ist das Risiko einer Mangelernährung noch sehr viel höher, da liegen wir bei 30 bis 40 Prozent. Bei über 10.000 operativen Eingriffen pro Jahr in unserer Klinik ist das eine ganze Menge an Risikofaktoren, die die Patienten von zuhause mitbringen.

Welche Bedeutung hat es für Sie im medizinischen Alltag, dass mit Hilfe von KI unter anderem die Messbarkeit von Leistung und Sicherheit von Medizinprodukten verbessert werden soll?

Nicht nur die Nebenerkrankungen der Patienten stehen auf dem Prüfstand, sondern auch die Medizinprodukte. Zunächst muss entschieden werden, welches der vorhandenen Implantate in einer bestimmten Konstellation, für den jeweiligen Patienten passt. Er soll schließlich das für ihn am besten geeignete Implantat erhalten. Der Arzt kann dann auf Grundlage der Daten mit Hilfe der KI besser beurteilen, ob er Prothese A, B oder C für einen Patienten wählt, der bestimmte Konstellationen oder Nebenerkrankungen, hat. Darüber hinaus könnten wir den Herstellern außerdem widerspiegeln, dass bei dem Implantat XY und einer bestimmten Konstellation die Mehrheit der Patienten z.B. eine negative Entwicklung durchmachen. Solche Erkenntnisse werden nur aus großen Datenmengen gewonnen. Wenn etwas nicht funktioniert, kann es ja auch reiner Zufall sein, dass wir hier in Tübingen diese Verläufe beobachten, die, für ganz Deutschland betrachtet, ein ganz anderes Resultat ergeben. Würde jedoch ein negativer Zusammenhang identifiziert, könnte der Hersteller im Interesse der Patientensicherheit nacharbeiten. Falls es bei einem Implantat vermehrt Infektionen gibt, wenn der Patient eine bestimmte immunologische Komponente hat, dann kann sich der Hersteller überlegen, ob dort z.B. eine Beschichtung gegen Keime sinnvoll ist. Andere Medizinprodukte werden vielleicht auch vom Markt genommen werden. AIQNET schafft somit eine objektivere Bewertungsplattform, z.B. für Implantate. Und wir erwarten von der KI, dass sie entsprechend klare Handlungsempfehlungen ermöglicht.

Wie profitieren Kliniken und Hersteller von der engen Kooperation zwischen Versorgung und Industrie in diesem Projekt?

Wir haben in diesem Projekt zwei Use Cases – Risikopatienten und Knieimplantate – bei denen es eine Schnittmenge gibt. Das übergeordnete Ziel für Kliniken ist die frühestmögliche Identifikation von Risikopatienten und die Möglichkeit auf Knopfdruck Risiken abfragen zu können. Dadurch lassen sich dann denkbare Komplikationen beim Eingriff minimieren, die Behandlung wird objektiv und subjektiv verbessert. Die Hersteller profitieren, weil sie die Anforderungen durch die MDR (Medical Device Regulation) für ihre Produkte mit Hilfe von AIQNET leichter erfüllen können. Sie erhalten von den Kliniken Daten aus tausenden von Behandlungen, um ihre Produkte besser zu validieren. Dass diese Informationen gewonnen werden, ist übrigens nicht neu. Alle bisherigen Erkenntnisse stammen aus aufwändigen klinischen Studien. AIQNET will den Erkenntnisgewinn vereinfachen. Die enge Kooperation der Projektpartner ist nicht zuletzt wichtig, um Schnittstellen zwischen Versorgung und Industrie zu etablieren. Dabei gibt es noch viel Diskussionsbedarf: Wie gehen wir, wenn wir das digitale Ökosystem etabliert haben, in den nächsten Jahren damit um? An welcher Stelle und auf welche Weise kann der zusätzliche Aufwand der Datenverarbeitung bezahlt werden? Es gibt die Position, dass die Daten sowieso erhoben und bereits durch die Krankenkassen bezahlt werden, dies ist leider nicht richtig. Auch das IT-Unternehmen, das die Auswertung betreut, muss bezahlt werden. Die Digitalisierung und Umstellung von Prozessen benötigt Ressourcen und Arbeit. Es wird also noch viele Diskussionen darüber geben, wie man mit den verfügbaren Daten, respektive mit den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen, umgeht.

Der ethische und datenschutzrechtliche Aspekt ist für Sie dabei von zentraler Bedeutung?

Richtig. Die Patienten sollen ihre Daten natürlich freiwillig zur Verfügung stellen. Aber wie geht man im Sinne des Datenschutzes mit diesen Daten um? Wie werden Daten gespeichert? Wie werden Daten ausgetauscht? Es geht nicht einfach so: „Gebt uns mal die Daten und wir machen dann schon.“ Wir Kliniken haben einen extrem hohen Aufwand, um die gesetzlichen Regularien einzuhalten, um IT-Sicherheitssysteme zu betreiben und um mit den Patienten im Rahmen der Aufklärung zu besprechen, dass sie ihre Daten zur Verfügung stellen können. Wir müssen ihnen deutlich machen, dass sie am meisten davon profitieren. Gleichzeitig soll unsere Schnittstelle den Patienten vor unbefugter Datenbenutzung schützen. Wir nehmen unsere Rolle im Konsortium sehr ernst. Aber natürlich profitieren alle, die im Gesundheitswesen arbeiten einschließlich Industrie, Krankenkassen, Gesundheitsministerium usw.

Warum braucht AIQNET Sie bzw. Ihre Expertise?

Seit 2007 fördere ich unter anderem das Thema „Identifikation von Risikopatienten in der Klinik“, da habe ich viele Erfahrungen sammeln dürfen, positive wie negative. Ich habe jetzt die Möglichkeit, diese Erfahrungen für AIQNET und zur Etablierung eines digitalen Ökosystems einzubringen. Dabei bin ich eigentlich gar nicht besonders technikaffin. Ich bin jetzt über 60 und habe meine Doktorarbeit noch auf einer Schreibmaschine getippt. Aber ich habe mich nach und nach angepasst und weiß, dass wir IT nicht nur im täglichen Leben brauchen. Moderne Technik ist in meiner Forschungsabteilung selbstverständlich geworden. Das Problem ist manchmal, dass sich die Kliniken und Verbände dagegen sperren. Aber da muss man halt ein dickes Fell entwickeln und sich auch gegen Widerstände durchsetzen. Die positiven Fortschritte der Technik verdienen es gefördert zu werden. Ich habe sicherlich genügend Durchsetzungsvermögen, um dieses Projekt auf den Weg zu bringen. AIQNET ist mittlerweile eines der Schlüsselprojekte in dieser großen BG-Klinik mit über 10.000 klinischen Eingriffen. Es hat ein wenig Zeit gekostet, aber ich denke, dass ich hier inzwischen (fast) alle überzeugt habe.

Über AIQNET

AIQNET ist ein digitales Ökosystem, das die Nutzung medizinischer Daten sektorenübergreifend und datenschutzkonform ermöglicht. Koordiniert wird das Gesamtvorhaben von der BioRegio STERN Management GmbH, Stuttgart. Initiator und Konsortialführer ist die RAYLYTIC GmbH mit Sitz in Leipzig.

Das Konsortium aus 16 etablierten Unternehmen der Medizintechnik und der Gesundheitsversorgung gewann 2019 unter dem Projekt-Akronym "KIKS" den KI-Wettwettbewerb der Bundesregierung. Seit Januar 2020 entwickeln die Partner des vom BMWi geförderten Projekts die technische Infrastruktur und darauf aufbauende Anwendungen. Im Mittelpunkt steht die Strukturierung von Daten mit Hilfe künstlicher Intelligenz und die Schaffung eines rechtssicheren Rahmens. So lassen sich künftig beispielsweise Leistung und Sicherheit von Medizinprodukten objektiv und weitgehend automatisiert messen. Administrative Aufgaben der Gesundheitsversorgung, z.B. bei der Dokumentation, können durch entsprechende Anwendungen erledigt werden. Besonderes Merkmal des Projekts ist die enge Kooperation zwischen Industrie, Forschung und Versorgung.

Durch den Zugang zu technischen und wissenschaftlichen Daten mit hoher Tiefe bietet das Ökosystem künftigen Partnern die Möglichkeit, eigene Gesundheitsanwendungen mit geringem Aufwand zu entwickeln und vom rechtssicheren, validierten Rahmen von AIQNET zu profitieren.

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